Held der Freiheit

Christian Zaschke war mit Helge für die Sueddeutsche Zeitung auf Tournee.

Hier sein Bericht vom 12.4. 2011

Frankfurt – Die Barleute des Maritim in Frankfurt am Main wollen längst abschließen und ins Bett, aber jetzt geben sie noch einen aus. So etwas machen Hotelangestellte normalerweise nicht um drei Uhr nachts. Die Maritimmenschen aber haben in der Gruppe, die rauchend auf den Barhockern ausharrt, Prominente erkannt.

„Ihr seid die Puhdys, oder?“, flötet die Barfrau, während sie Schnapsgläser auf den Tresen stellt. Die rauchenden Menschen auf den Barhockern heben ihre Gläser auf diese Band, dann erzählt Sergej Gleithmann eine rührende Geschichte über Helge Schneider.

Die vermeintlichen Puhdys, die da am Tresen sitzen, sind Schneiders Musiker, Schneider selbst hat sich nach dem Auftritt in sein Wohnmobil zurückgezogen. Sergej Gleithmann trägt einen Bart, der sich bis aufs Brustbein legt, auf der Schädelplatte hat sich eine fast haarfreie Ebene aufgetan. Auf deutschen Bühnen tut sich der 60 Jahre alte Mann seit vielen Jahren dadurch hervor, dass er in Schneiders Shows in einem Ganzkörperturnanzug Übungen vorführt oder Saxophon spielt.

Gleithmann und Schneider haben sich vor 30 Jahren bei Eduscho kennengelernt, dem Kaffeeladen, in Mühlheim. Da hing man rum, wenn nichts los war, also immer. Gleithmann und Schneider sind schnell Freunde geworden, und na sicher, könnte man denken, Irre unter sich. Ebenso klar ist aber, dass weder Schneider noch Gleithmann irre sind. Gleithmann mag einen seltsamen Namen und ein eigenwilliges Aussehen durch die Welt tragen, aber bekanntlich sind Menschen, die das Seltsame und Eigenwillige sichtbar vor sich hertragen, die normalsten, die man treffen kann. Gleithmann ist ein kluger, musikalischer Mann, und er steht für das Universum des Helge Schneider: Er ist ein Mann für den zweiten Blick.

Parodiert er Lionel Hampton, verschmelzen Komik und Anbetung. Es ist große Kunst.

Dass auch Schneider noch immer ein Mann für den zweiten Blick sein soll, mag inzwischen fad klingen. Wer sich aber wirklich einen zweiten Blick gönnt, der erkennt in ihm einen der größten deutschen Künstler der Gegenwart. Und der sieht einen Mann, der so ganz anders ist als alle anderen: Er ist frei. Immer gewesen.

Leider ist Schneider den meisten Menschen als Interpret des Liedes „Katzeklo“ bekannt, und es wäre viel verlangt, in diesem Lied sein Genie zu erkennen, obwohl sich selbst hier Feinheiten verstecken. Es wechselt sehr plötzlich vom 4/4-Takt in den 2/4-Takt; aber gut, wo ist da die Kunst? Das ist Spielerei. Erst mal.

Als Daniel Kehlmann 2008 eine Rede hielt anlässlich der Verleihung des Kleist- Preises an Max Goldt, sagte er einen Satz, der klingt, als wäre er einer Laudatio auf Schneider entnommen: „Zu oft gilt der Umstand, dass etwas lachen macht, als Indiz für eine gewisse Mittellage des ästhetischen Werts.“ Schneiders Shows machen sehr lachen, man trifft Menschen an solchen Abenden, die ob der zarten, aber katastrophalen Poesie in Schnappatmung ausbrechen und zwischendurch ins Foyer müssen. Sie hören dann nur aus der Ferne Geschichten von Bären, die nach einem Bad im See ihr Fell zum Trocknen aufhängen, während im Wasser die Aale den Enten in die Eier beißen.

Der Komik-Umstand führt zu Missverständnissen. Zum Beispiel wird Schneider seit Jahrzehnten während des Karnevals für die Kölner Philharmonie gebucht. Die ist dann an jedem Abend voll, täglich kommen mehr als 2000 Menschen, kostümiert, aber tatsächlich sind Schneider und der Karneval Gegensätze, die sich kaum versöhnen lassen.

Schneider ist derzeit wieder auf einer großen Tournee, die mittlerweile fast Ausmaße angenommen hat wie Bob Dylans Never Ending Tour. Jüngst ist er auf dieser Tour in Berlin angekommen, wo er im April mehr als drei Wochen lang im Admiralspalast auftritt. Teile seiner Show sehen noch aus wie am Anfang der Tour, viele sind verschwunden, oder sie haben sich so verändert, als habe ein Literat für die zweite Auflage seines Romans den Anfang, den Schluss, den Mittelteil, die handelnden Personen sowie das Thema verändert; nur den Titel nicht.

Im Kölner Karnevalsprogramm hatte sich Schneider eine Perücke aufgesetzt, die aussah wie ein toter Hund. Er war nun ebenfalls verkleidet, und doch passierte etwas anderes als Karneval. Er begann, das Vibraphon zu spielen, dazu fuchtelte er mit den Armen, als verscheuchte er Fliegen, weshalb zunächst nicht auffiel, welches Gebilde aus Tönen sich da aufbaute. Fuchtelnd, hampelnd und grimassierend ließ er Jazz erklingen, wunderbare Musik, zugleich parodierte er den genialen Lionel Hampton, indem er ihn übertraf, es war eine Nummer, in der Komik und Kunst nicht nebeneinander standen, sondern eins wurden.

Schneider mag es, wenn der Rahmen für seine Auftritte feierlich ist, weil gerade dann beknackte Momente besser zur Geltung kommen: Während er das Stück „Hunderttausend Rosen“ in der Philharmonie sang, veränderte er mal wieder den Text. Es gefiel ihm, der Angebeteten ein Kleid aus „100 Prozent Acetat“ anzudichten; und dann habe er sich beim ersten Treffen nur eine Zigarette anzünden wollen, woraufhin die Dame in einer 30 Meter hohen Stichflamme von dannen gegangen sei, bevor sie auch nur ein Wort gewechselt hätten. Vorgetragen im feinen Anzug mit vibrierender Stimme, die auf der Akustik der Philharmonie zu fliegen schien, wirkte der Text fast nachvollziehbar: Acetat-Kleid, Zigarette anzünden, Stichflamme. Diesen Blödsinn mochte Schneider so sehr, dass er die Frau im Acetat-Kleid in der Frankfurter Oper erneut in den Himmel schickte, diesmal in einer 60 Meter hohen Stichflamme. Wieder einen Tag später, in Marburg, reduzierte er die Stichflamme auf 20 Meter. Warum? „60 Meter sind unrealistisch“, sagt er.

Das ist zwar Quatsch, und je nach Gemüt kann man das schön oder blöd finden, aber dann sang Schneider die Zeile: „Manchmal ist die Liebe größer, wenn man einander nicht kennt.“ So hatte er aus „Hunderttausend Rosen“ ein nach- gerade tiefgründiges Lied gemacht. Möglich, dass die Nummer bald, zum Beispiel wenn er im Mai in München auftritt, von etwas anderem handelt, Raumfahrt, Nagetiere, Kannibalismus, es zählt für Schneider ja nur der Moment.

Es gab mal einen Werbespot für Jever Bier, in dem ein Mann durch die Dünen wandert und sich dann in den Sand fallen lässt. Der Slogan lautete: „Keine Kompromisse“. Keine Kompromisse, das ist der Traum des Büro- und Arbeitsmenschen, der nach der Maloche einschließlich der üblichen Demütigungen müde nach Hau- se kommt. Ein Traum, der niemals Wirklichkeit wird, auch nicht nach dem Genuss einiger Jever. Wenn der Büro- und Arbeitsmensch aber am Abend die Kraft aufbringt, statt zum Biertrinken in ein Konzert von Schneider zu gehen, dann sieht er einen Mann, für den das kein Traum ist. Sondern das Leben. Er sieht einen Mann, der sich seine Freiheit nimmt, und der genau davon nicht nur sehr gut lebt, sondern auch viel Freude verbreitet. Wegen der Musik und wegen des Spaßes pilgern die Menschen in Schneiders Shows, aber auch, weil es befreiend ist, trostreich, dass es einen derart freien Mann nicht nur in der Werbung gibt.

Anders als seine Band, reist Schneider auf Tour in seinem Wohnmobil, einem großen silbernen Gefährt. Er will seine Ruhe haben. Also empfängt er eher selten Gäste, und wenn doch, tut er es gelassen vor diesem Mobil auf einem Hocker sitzend. Er ist dann höflich, nachdenklich, bestimmt. Über seine Musik, seinen Stil, seine Kunst spricht er in klaren Sätzen, er weiß ja, was er da macht: „Das alles hat viel mit Timing zu tun. Ich spiele Sachen nie viel weiter, als es nötig ist. Um immer auch darüber zu stehen.“ Fragt sich, welche Musiker in der Lage sind, gemeinsam mit ihm über der Musik und also den Dingen zu stehen.

Den Gitarristen Sandro Giampietro fand Schneider vor fast 16 Jahren in Oldenburg. Er spazierte, wie er das in vielen Städten macht, ins nächste Musikgeschäft, um zu sehen, was es da so gibt. Er kann im Grunde jedes Instrument spielen, also kauft er unzählige, die er auf seiner Ranch bei Mühlheim lagert; in Mühlheim wurde er 1955 geboren, er lebt dort bis heute. Im Oldenburger Musikgeschäft gab es kaum was Interessantes, doch der Besitzer erzählte, da sitze ein Typ im Hinterzimmer und gebe Gitarrenunterricht – der habe eine alte Fender zu verkaufen. Schneider und Giampietro verabredeten sich für den Abend, der Gitarrist spielte ihm was vor. Da hat Schneider die Fender gekauft und den Gitarristen gleich mit.

„Es geht bei Helge Schneider nie um Musik“, erklärt sein Bassist: „Es geht um MUSIK.“

Giampietro ist 42 Jahre alt, dreifacher Vater und ein bedächtiger Mann, der auf der Autobahn ewig hinter Lastwagen herfährt. Er hat sich den Schädel kahlrasiert, nur am Hinterkopf steht ein Knäuel schwarzer Haare wie ein vergessener Mützenbommel. Er sagt: „Für 80 Prozent aller Musiker wäre es eine Katastrophe, mit Helge zu spielen. Oft proben wir etwas, und in der Show ist es dann anders. Oder er spielt plötzlich ein Lied, das ich nicht kenne. Das muss ich im laufenden Betrieb heraushören.“ Während er gelassen auf der rechten Spur vor sich hinzuckelt, sagt Giampietro: „Helge sorgt für Katastrophen. Wenn es zu gut läuft, wird ihm langweilig.“ Es ist Schneiders permanente Suche nach der Katastrophe, die seine Band belebt – und zusammenhält.

Rudi Olbrich, der 75 Jahre alte Bassist, müsste sich das nicht antun, er könnte irgendwo spielen, Bassisten suchen sie ja immer. Aber er sagt: „Du sitzt immer da wie ein Luchs.“ Auf Schneiders Wunsch muss er in einem grünen Jackett auftreten, das an den Schultern zu weit sitzt. Seinen Bass besitzt er seit 1956, er hat fast überall und mit fast allen gespielt, aber für Schneider trägt er das grüne Jackett. Olbrich sagt: „Du musst hier immer wach bleiben. Und du musst immer MUSIK machen. Es geht bei Schneider nie um Musik. Es geht um MUSIK.“

Auf dem Hocker vor seinem Wohnmobil sagt Schneider: „Das Thema ist nie: Helge Schneider präsentiert sich. Das Thema ist: Helge Schneider präsentiert seine Musiker. Ich preise die an.“ Im Gegenzug müssen die Musiker damit umgehen, dass es Schneider jederzeit einfallen kann, ein Stück zu beenden oder zu spielen wie noch nie. Er ist als Chef des Ensembles weniger umstritten als jeder Dax- Vorstand, wobei er sich nicht Chef nennt. Er sagt: „Ich bin der Vorsteher.“

Einmal während der Tour hatten sich Giampietro und der Schlagzeuger Willy Ketzer abgesprochen: Beim Schlagzeug-Solo änderten sie den Rhythmus. Schneider saß an der Orgel, er spielte sofort einen Schluss und unterband das Solo. Er sagt: „Das bringt den Schlagzeuger nicht dahin, wo er sein müsste, nämlich in den Zenit. Das wäre richtig Scheiße geworden. Ich musste das also abbrechen.“ Wenn seine Musiker aber spielen, wie es ihm gefällt, ist Schneider fähig zum größten Lob. In der Alten Oper in Frankfurt rief er in den Saal: „Willkommen im Loch! Was fehlt denn hier?“, und antwortete selbst: „Fenster.“ Als er im Anschluss die Band präsentierte, sagte er sanft: „Hier sind Fenster zur Welt.“

Es gibt Menschen, die Schneiders Auftritte für verstörend halten. Was soll Kunst daran sein, wenn einer Unsinn redet, zwischendurch Frank Sinatra, Lionel Hampton aufscheinen lässt, Art Tatum ebenso zitiert wie den von ihm sehr bewunderten Count Basie (der nie mehr Töne spielte als unbedingt nötig) und natürlich Duke Ellington (der ihm nicht als Pianist, sondern als Conférencier ein Vorbild ist)? Wenn einer aufbaut, zerstört, neu erfindet, wenn einer auf schöne Melo- dien großen Schwachsinn spricht, singt und trällert? „Genau das“, wäre eine Antwort. Allerdings gibt es auch einen Song im Programm, in dem ein Chirurg einem Mann Kartoffeln in den Sack näht, damit er besser vögeln kann, und einer Frau näht er die Pobacken an den Nacken. Ist das nicht viel zu blöd?

Was würde Herr Gleithmann ohne Schneider machen? Die Antwort kommt schnell: „Nix.“

Helge Malchow hat auf die Kartoffeln- im-Sack-Sache keine konkrete Antwort, und er ist keine unabhängige Instanz, da er erstens seit 20 Jahren mit Schneider befreundet ist und zweitens als Verlagschef von Kiepenheuer & Witsch dessen Bücher verlegt. Er kann jedoch als Zeuge der Verteidigung gelten gegen die, die Schneider Geschmacklosigkeit vorwerfen. Malchow sagt: „Ich glaube, dass Helge Schneider ein ganz großer Künstler ist. Komponieren, Instrumente spielen, schreiben, zeichnen, reden, sich bewegen: Es ist immer die- selbe unbändige Energie am Werk, eine Dauerimprovisation, die aus dem Jazz kommt, und die Helge Schneider insgesamt definiert.“

Dauerhaft zu improvisieren ist unmöglich, ohne einen festen Boden zu haben. Der Pianist Keith Jarrett hat es versucht und ist darüber innerlich leer geworden, denn wer immer improvisiert, der läuft Gefahr, so lange so viel von sich selbst zu geben, bis nichts mehr übrig ist. Doch Schneider hat diesen festen Boden, er gründet sich als Künstler und als Mensch auf Freiheit und auf Fürsorge – wobei letztere darin besteht, dass er, ähnlich einem Paten, auch in den schlechten Zeiten für seine Crew da ist, und dass er selbstverständlich einen Mann wie Gleithmann zu einem Mitglied seines Ensembles macht.

Was würde Gleithmann ohne Schneider machen? „Nix“, sagt Gleithmann.

Es ist wieder einer dieser Abende, an denen die Band nach dem Auftritt im Hotel verweilt und Schneider sich zurückgezogen hat, diesmal, um mit dem Wohnmobil nach Hause zu fahren, zur Ranch, auf der er mit seiner sehr schönen Frau, vielen Kindern und etwas weniger Hunden lebt. Malchow sagt: „Er ist so moralisch solidarisch mit den Leuten um ihn herum, dass man es fast nicht glauben kann. Das ist für ihn selbstverständlich, wie ich das noch nie bei einem Menschen gesehen habe. Das hat nichts mit ihm als Künstler zu tun, das ist eine Charakterstärke, die selten und bemerkenswert ist.“

Schneiders Freiheit dagegen besteht darin, dass er niemanden überzeugen will von dem, was er tut. Einmal während der Tour sagt er: „Wenn die Leute darüber nicht lachen können oder das blöd finden, habe ich dafür Verständnis. Ich würde aber trotzdem nicht die bevorzugen, die immer über alles von mir lachen können. Ich mache das ja auch für die, die das nicht lustig finden. Das ist es ja.“

Malchow nennt die Show Helge Schneiders eine „Freiheitsperformance“. Er sagt: „Perfektion springt immer in Zwang um, weil man sie an jedem Abend wiederholen muss. Wenn die Callas an einem Abend das hohe C trifft, fragt man sich, ob sie das noch mal kann. Und noch mal.“ Nun ist Schneider ein Pedant, er weiß genau, was wann wie klingen soll, und er strebt in diesem Sinne durchaus nach Perfektion. Er tut das jedoch an jedem Tag auf andere Art und Weise. Das ist sein Trick – und seine Weisheit.

Um kurz nach drei Uhr morgens, an der Bar des Maritim, sind die Schnapsgläser ausgetrunken. Sergej Gleithmann, der gesagt hatte, „aber mach mal bitte auch das h schön mit rein in den Namen“, erzählt jetzt, dass er in Wahrheit Volker Bertzky heißt. Den Namen Gleithmann hatte sich Schneider damals ausgedacht. Bertzky ist nicht der erste Mensch, der Schneiders Genie erkannt hat, aber er ist der Mann, der es in den Anfängen von Schneiders Karriere immer wieder exklusiv genießen durfte: „Helge und ich haben im selben Haus gewohnt. Er im Erdgeschoss, ich eins drüber. Helge kam nachts von Auftritten nach Hause, spät, und weißt du, was er dann gemacht hat? Helge hat sich ans Klavier gesetzt. Jeden Abend. Und dann hab ich alles in meiner Wohnung ausgemacht, was ein Geräusch machen konnte, sogar die Heizung, alles, und dann hab ich ihm zugehört. Und das war so ein Genuss.“

Helge Schneiders Musik klang wohl damals schon schön und leicht und frei. Weil er sie zu den selben Bedingungen spielte wie heute: zu seinen.